Datenanalyse und Dampfmaschinen

Astronomische Teleskope werden immer empfindlicher, die Analyseverfahren immer raffinierter. Brauchen moderne Verfahren zur Bildrekonstruktion in der Astronomie neue theoretische Ansätze? Nicht unbedingt, eine alte Theorie, die zum Verständnis von Dampfmaschinen entwickelt wurde, vermag dies auch: die Thermodynamik. Zwei Forscher am Max-Planck-Institut für Astrophysik haben nun gezeigt, wie die seit mehr als hundert Jahren bekannte Gibbs-Energie der Thermodynamik zur Entwicklung neuer optimaler bildgebende Verfahren verwendet werden kann.

Abb. 1: Die Entwicklung von leistungsstarken Dampfmaschinen während der industriellen Revolution hat von der Theorie der Thermodynamik profitiert.
Bildnachweis: linkPfeilExtern.gifBy Lardner, Dionysius and by F.A. Brockhaus, Berlin und Wien [beide Public domain], via Wikimedia Commons

Abb. 2: Himmelsbild des galaktischen Magnetfeldes gesehen durch den Faraday-Rotationseffekt von Radiostrahlung (oben) und eine Karte der statistischen Bildfehler dieses Bildes (unten). Das Bild wurde aus etwa 38.000 Einzelmessungen mit einem mathematischen Verfahren zusammengesetzt, welches mittels der Gibbs-Energie hergeleitet wurde.
Ursprüngliche Daten: NVSS Katalog und Taylor et al. (2010).
Bildrekonstruktion: Oppermann et al. (2010)

“Wat is en Dampfmaschin? Da stelle mer uns mal janz dumm...”
(Die Feuerzangenbowle, 1944)

Im Inneren von Dampfmaschinen herrscht das molekulare Chaos. Die Positionen und Geschwindigkeiten der unzähligen Moleküle in einem Dampfkessel sind im Einzelnen unmöglich zu berechnen. Wenn ein Ingenieur sich nun aber für die typischen Geschwindigkeiten dieser Moleküle interessiert, um zum Beispiel den Druck in einem Dampfkessel zu bestimmen, so kann er die Thermodynamik zu Hilfe nehmen. Diese Theorie berechnet derartige globale Größen zuverlässig, wobei sie elegant die unglaublich komplizierte Dynamik der einzelnen Molekülbewegungen mit statistischen Argumenten vereinfacht.

Wenn moderne Astronomen mit ihren Teleskopen Licht aus den Tiefen des Weltalls einfangen, um Bilder des Himmels bei verschiedenen Wellenlängen anzufertigen, so hat dies mit den typischen Anwendungen der Thermodynamik auf den ersten Blick nur wenig zu tun. Doch auch hier gibt es Unsicherheiten, denen man nur mit statistischen Methoden beikommen kann: die Helligkeit des Himmel muss an jedem der theoretisch unendlich vielen Bildpunkte bestimmt werden, die Beobachtungsdaten sind allerdings oft grobkörnig, verwaschen, durch Rauschen gestört, fast immer unvollständig und in jedem Fall endlich. Intelligente Methoden sind daher nötig, um aus den Teleskopdaten ein möglichst getreues Abbild des Himmels zu machen.

Unglücklicherweise gibt es meist unendlich viele mögliche Bilder des Himmels, die sich mit den Beobachtungsdaten vertragen würden. Diese unendlichen Möglichkeiten sind genauso unübersichtlich wie das molekulare Chaos in einem Dampfkessel und lassen sich mit den gleichen statistischen Methoden zähmen. Bei der Dampfmaschine wird das Verhalten der Wassermoleküle von zwei Größen bestimmt: der inneren Energie U des Wassers und dessen Entropie S. Ersteres ist die mittlere Energie, die die Moleküle aufgrund ihrer Bewegung und der zwischenmolekularen Anziehungskräfte haben. Die Entropie ist ein Maß des molekularen Chaos, je größer die Entropie ist, umso wilder fliegen die Moleküle durcheinander. Die Thermodynamik besagt nun, dass das Wasser einen Gleichgewichtszustand einnimmt, so dass die Kombination aus innerer Energie, Entropie und Temperatur T möglichst gering ist. Diese Kombination, die so genannte Gibbs-Energie, ergibt sich aus der Formel G = U - TS. Somit kann man mithilfe der Gibbs-Energie verstehen, wie sich Wasser bei verschiedenen Temperaturen verhält. Bei niedrigen Temperaturen möchten die Wassermoleküle möglichst die innere Energie minimieren, was sie durch die Bildung von Wassertropfen oder Eiskristallen erreichen. Bei hohen Temperaturen bevorzugen sie einen energetisch teuren, aber mit viel Chaos (großer Entropie) verbundenen Gaszustand.

Torsten Enßlin und Cornelius Weig vom Max-Planck-Institut für Astrophysik haben nun gezeigt, dass dieselben Begriffe der inneren Energie, Entropie und Gibbs-Energie auf das Problem digitaler Bildrekonstruktionen angewendet werden können. Die Entropie beschreibt hierbei die Unsicherheit, mit der den einzelnen Himmelspunkten ein bestimmter Helligkeitswert zugeordnet werden kann. Die innere Energie beschreibt, wie wahrscheinlich die einzelnen möglichen Himmelsbilder sind, die im Rahmen der Unsicherheit in Betracht gezogen werden müssen. Aus dem Wechselspiel von innerer Energie und Entropie kann aus den Teleskopdaten so das bestmögliche Bild des Himmels errechnet werden. Zudem liefert das Verfahren im Gegensatz zu vielen herkömmlichen Verfahren eine Fehlerkarte, die die Unsicherheit aller Bildpunkte angibt.

Die Forscher konnten zeigen, dass viele bereits bewährte bildgebende Algorithmen im Grunde auf diesen neuen Ansatz, der auf der über hundert Jahre alten Thermodynamik beruht, zurückgeführt werden können. Es lassen sich aber auch ganz neuartige Algorithmen entwickeln. Der Begriff der Entropie war in der Theorie der Bildverarbeitung zwar schon bekannt, doch die innere Energie, die für die Bestimmung der Gibbs-Energie nötig ist, war zuvor noch nicht korrekt eingeführt worden. Dieselben Gesetze der Thermodynamik, die schon bei der industriellen Revolution einen wesentlichen Beitrag geliefert haben, könnten somit auch bei der heutigen Entwicklung von Informationstechnologien eine wichtige Rolle spielen.


Torsten Enßlin und Cornelius Weig


Referenzen:

Torsten A. Enßlin and Cornelius Weig, "Inference with minimal Gibbs free energy in information field theory", Phys. Rev. E 82, 051112 (2010)
linkPfeilExtern.gifhttp://pre.aps.org/abstract/PRE/v82/i5/e051112 linkPfeilExtern.gifhttp://arxiv.org/abs/1004.2868

Niels Oppermann, Henrik Junklewitz, Georg Robbers, Torsten A. Enßlin, "Probing Magnetic Helicity in Different Astrophysical Contexts", submitted, arXiv:1008.1246
linkPfeilExtern.gifhttp://arxiv.org/abs/1008.1246

Taylor, A. R.; Stil, J. M.; Sunstrum, C., "A Rotation Measure Image of the Sky", Volume 702, Issue 2, pp. 1230-1236 (2009)
linkPfeilExtern.gifhttp://iopscience.iop.org/0004-637X/702/2/1230/

Links

linkPfeil.gifAktuelle Forschung August 2009