Sind Zwerggalaxien doch größer als gedacht?

Zwerggalaxien sind die häufigsten Galaxien im Universum und auch unsere Galaxie, die Milchstraße, ist von Dutzenden Zwerggalaxien umgeben. Trotz ihres Namens enthalten die größten von ihnen selbst Hunderte Millionen Sterne und große Mengen an Gas, die kleinsten umfassen dagegen nur wenige hundert, überwiegend alte Sterne und sind kaum als Galaxien zu erkennen. Allen gemeinsam ist, dass ihre Masse zum überwiegenden Teil aus Dunkler Materie zu bestehen scheint — wie viel genau, ist unbekannt. Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Astrophysik in Garching haben nun neue Computersimulationen zur Entstehung von Zwerggalaxien durchgeführt, die die bisherigen Annahmen infrage stellen.

Abb. 1: Diese Grafik zeigt den Vergleich zwischen der vorhergesagten Relation von Sternenmasse und Halomasse (schwarze Linie) und der Ergebnissen von Simulationen einzelner Zwerggalaxien (farbige Symbole). Der grau eingefärbte Bereich markiert die maximal angenommene Unsicherheit der Beobachtungen. Die nun vorgestellten sechs Simulationen sind als rote Quadrate dargestellt, die anderen Symbole zeigen die Ergebnisse früherer Arbeiten.

Abb. 2: Ausschnitt aus der Millennium-II Simulation (links) und der Resimulation (rechts), mit dem Halo einer der untersuchten Zwerggalaxien im Zentrum. Position und Masse des Halos stimmen in beiden Fällen überein. Die höhere Auflösung der Resimulation führt dazu, dass im Vergleich zur Ursprungssimulation zusätzliche Struktur sichtbar wird.

Die sichtbare Materie — Sterne, Planeten und interstellares Gas — machen nur etwa fünf Prozent der gesamten Masse des Universums aus. Der große Rest ist unsichtbar: Er besteht zu etwa drei Viertel aus Dunkler Energie und knapp einem Viertel aus Dunkler Materie und macht sich nur durch seine Gravitation bemerkbar. Direkt nachweisen konnte man die Dunkle Materie bisher noch nicht, aber ihre Eigenschaften spielen für die Struktur des Universums eine entscheidende Rolle: Sie sagen voraus, wie die Halos aus Dunkler Materie entstehen, in denen sich Galaxien entwickeln, und auch, wie diese sich im Universum verteilen. Dieser Prozess der kosmischen Strukturentstehung wurde am MPA bereits mit den linkPfeil.gif Millennium-Simulationen in bis dahin unerreichter Auflösung untersucht.

Der Vergleich solcher Simulationen mit Beobachtungen einer großen Anzahl von Galaxien erlaubt auch statistische Aussagen darüber, wie die Entstehung von Galaxien und Halos zusammenhängt. Nimmt man an, dass größere Galaxien in größeren Halos entstehen, lässt sich aus diesem Vergleich eine Relation für das durchschnittliche Verhältnis von sichtbarer und unsichtbarer Materie in Galaxien unterschiedlicher Masse herleiten. Um die Entwicklung einzelner Galaxien genauer zu verstehen, sind allerdings sehr viel höher auflösende Simulationen notwendig, in denen der sichtbare und unsichtbare Anteil direkt in Wechselwirkung treten. Neben der Gravitation müssen dabei viele weitere physikalische Prozesse berücksichtigt werden, darunter die Hydrodynamik des Gases, die Temperaturentwicklung des interstellaren und intergalaktischen Mediums, die Sternentstehung und -entwicklung und der Effekt kosmischer UV-Strahlung.

Für ihre nun vorgestellte Arbeit wählten Till Sawala und seine Mitautoren sechs Dunkle-Materie-Halos mit unterschiedlichen Entstehungsgeschichten aus der Millennium-II Simulation und simulierten sie erneut mit 100-fach höherer Auflösung. Alle sechs Halos erreichen eine Masse von etwa 10 Milliarden Sonnenmassen, was nach der statistischen Relation Galaxien mit etwa einer Million Sonnenmassen in Sternen entspricht. Tatsächlich ergaben die detaillierten Simulationen jedoch Sternenmassen zwischen 50 und 100 Millionen Sonnenmassen — ein Vielfaches des erwarteten Wertes.

Diese Ergebnisse sind zwar qualitativ im Einklang mit früheren, vergleichbaren Simulationen einzelner Zwerggalaxien. Aufgrund der repräsentativen Auswahl der Halos konnte das Team um Till Sawala nun jedoch zeigen, dass die viel höhere Sternenmasse nicht auf Besonderheiten der simulierten Galaxien zurückzuführen ist, sondern einen echten Widerspruch zwischen den gegenwärtigen Simulationen und den Beobachtungen darstellt.

"Dieser Widerspruch lässt prinzipiell drei Erklärungen zu", kommentiert Till Sawala die Ergebnisse: "Entweder, die bisherigen Beobachtungen sind unvollständig, und es gibt sehr viel mehr Zwerggalaxien als wir bisher kennen. Als zweite Möglichkeit könnte die Verteilung von Halos doch anders sein, als im Standard-Modell der sogenannten kalten Dunklen Materie vorhergesagt. Sind die beiden ersten Annahmen aber korrekt, bleibt als letzte Erklärung nur, dass alle Simulationen die tatsächliche Sternentstehungsrate um mindestens einen Faktor 10 überschätzen.”

Jede der möglichen Lösungen hätte interessante Auswirkungen. “Wir glauben, dass die Beobachtungen von Galaxien hinreichend vollständig sind und wir die verbleibende Unvollständigkeit recht gut abschätzen können”, so Mitautorin Qi Guo von der Universität Durham. “Eine Differenz um den Faktor Vier stellt zudem andere Modelle infrage, die sich auf diese Resultate stützen.”

Um den zweiten Ansatz, eine Alternative zum Standard-Modell kalter Dunkler Materie, zu überprüfen, vergleichen die Autoren die Verteilung der Halos auch mit Simulationen warmer Dunkler Materie. In diesem Modell entstehen weniger kleinskalige Strukturen, was die Anzahl der simulierten Zwerggalaxien tatsächlich mit den Beobachtungen in Einklang zu bringen scheint. "Solch ein Modell steht allerdings im Widerspruch zu anderen Beobachtungen, so dass diese Erklärung wenig wahrscheinlich erscheint", merkt Professor Simon White an.

Wenn die Beobachtungen annähernd vollständig sind, und auch die Verteilung der Dunklen Materie den Vorhersagen entspricht, bleibt als letzte Möglichkeit, dass die Simulationen die tatsächliche Sternentstehungsrate falsch vorhersagen. Da alle bisherigen Simulationen mit unterschiedlichen Techniken vergleichbare Aussagen machen, scheint es sich dabei nicht um einen numerischen Fehler zu handeln. Viel wahrscheinlicher ist, dass ein bisher unbekannter Prozess die Sternentstehung behindert, der in gegenwärtigen Simulationen nicht, oder nur unzureichend berücksichtigt wird.

“Sicher ist nur eines: Die Beobachtungen der Galaxien, unser Verständnis der Dunklen Materie und die bisherigen Simulationen der Galaxienentstehung können nicht gleichzeitig richtig sein”, fasst Till Sawala zusammen. Die Autoren sind sich einig: "Die Erforschung der Galaxienentwicklung hält noch manche Überraschung bereit."


Till Sawala