Die Geschichte unserer Milchstraße

Blickt man in einer sternenklaren Nacht an den Himmel, so erkennt man deutlich das spektakuläre Band der Milchstraße. Dieses Band - die Scheibe unserer Heimatgalaxie - erstreckt sich über den gesamten Himmel und besteht aus Milliarden von Sternen, die um das galaktische Zentrum kreisen. Die Sterne können dabei nach innen oder nach außen wandern, führen also innerhalb der Scheibe eine Migrationsbewegung durch. Eine Gruppe von Wissenschaftlern am Max-Planck-Institut für Astrophysik hat nun das Licht von 16.000 Sternen in der Umgebung der Sonne neu analysiert, um so das Ausmaß der Wanderbewegung zu bestimmen. Sie konnten damit insbesondere zeigen, dass die Sterne in der sogenannten “dicken” Scheibe, deren Orbits weiter aus der Scheibenebene herausragen als üblich, natürlicherweise als Immigranten aus dem Innenbereich der galaktischen Scheibe erklärt werden können.

Abb. 1: Das Diagramm zeigt den Zusammenhang zwischen Alter und Metallgehalt für die Sterne in unserem Datensatz, wobei die Farbcodierung ein Maß für die Anzahl der Sterne ist. Das Maximum der Metallizitätsverteilung verschiebt sich kaum mit dem Alter, gleichzeitig nimmt die Breite der Verteilung zu älteren Sternen hin zu. Diese Signatur kann der radialen Migration der Sterne zugeschrieben werden.

Abb. 2: Durchschnittliche Rotationsgeschwindigkeit von Sternen unterschiedlicher chemischer Zusammensetzung im Modell. Nach rechts ist der Metallgehalt der Sterne aufgetragen, nach oben die relative Häufigkeit des Alpha-Elements Sauerstoff (O) im Vergleich zu Eisen (Fe). Die sauerstoffreichen Objekte oben sind generell am ältesten. Die Farben beschreiben die durchschnittliche Rotationsgeschwindigkeit der Objekte. Zwischen metallreichen und -armen Sternen ist klar ein Kontrast zu erkennen. Die schwarzen Linien deuten die Herkunft der Sterne im Modell an; sie zeigen die Entwicklung des sternbildenden Gases in einem Abstand von 10 kpc (äußere Scheibe), 7,5 kpc (etwa unsere Sonne), 5 kpc und 2,5 kpc (innere Scheibe) vom Zentrum.

Abb. 3: Diese Abbildungen zeigen verschiedene Eigenschaften in Abhängigkeit vom Metallgehalt. In der mittleren Grafik wurden die Sterne nach ihrer Rotationsgeschwindigkeit relativ zur Sonne (v = 232 km/s) sortiert. Langsame (schnelle) Sterne wurden gelb (schwarz) markiert. Die Grafik oben zeigt die Häufigkeit von Alpha-Elementen für die langsamen (gelb) und schnellen (schwarz) Sterne, die beiden Linien markieren den durchschnittlichen Trend der beiden Subpopulationen. Man erkennt, dass die langsam rotierenden Sterne (die “dicke Scheibe”) im Schnitt eine deutlich größere Häufigkeit von Alpha-Elementen aufweisen. Dies weist auf ein höheres Durchschnittsalter hin. Die Grafik unten zeigt die Metallizitätsverteilung der langsamen (gelb) und schnellen (schwarz) Sterne; die langsamen Sterne haben im Durchschnitt eine höhere Metallizität. Dieses Verhalten steht im Widerspruch zum klassischen Bild, bei dem ältere Sterne und Sterne der dicken Scheibe metallärmer sein müssten, ist aber natürlich erklärbar im Modell der radialen Migration.

Sterne sind zum einen die Triebkräfte für die Evolution von Galaxien, bezeugen aber gleichzeitig deren Vergangenheit. Durch Kernfusion erzeugen Sterne in ihrem Inneren aus Wasserstoff und Helium die schwereren Elemente, die von Astronomen vereinfachend als Metalle bezeichnet werden. Massereiche Sterne verbrauchen ihren nuklearen Brennstoff dabei sehr rasch - auf kosmischen Zeitskalen: sie brauchen dafür nur Millionen von Jahren im Vergleich zu den etwa 10 Milliarden Jahren, die unsere Milchstraße bereits existiert. Bei ihrem fulminanten Tod in einer gewaltigen Explosion schleudern sie einen Großteil ihrer nuklearen Brennprodukte heraus. Diese vermischen sich mit den ursprünglichen Gaswolken, aus denen beständig neue Sterne entstehen und reichern sie mit Metallen an. Masseärmere Sterne (ähnlich unserer Sonne) sind die Zeugen dieser Geschichte: Die äußeren Hüllen von Sternen vermischen sich kaum mit dem Material in ihren Kernen, und so spiegeln ihre Atmosphären weitestgehend die Zusammensetzung des Gases wider, aus dem sie einst entstanden. Ihre lange Lebenszeit von mehreren Milliarden Jahren macht sie zu Fossilien früherer Zeiten.

Die Anreicherung des sternbildenden interstellaren Gases ist kein plötzlicher Prozess und so wächst dessen Metallgehalt (seine “Metallizität) kontinuierlich an. Darüber hinaus ändert sich auch die relative Zusammensetzung an schweren Elementen: Sehr alte Sterne, die während der Jugend unserer galaktischen Scheibe geboren wurden, tragen einen Überschuss an sogenannten “Alpha-Elementen” im Vergleich zu Eisen in sich. Als Alpha-Elemente werden dabei diejenigen chemischen Elemente bezeichnet, deren Kerne ein Vielfaches des Helium-Kerns sind, wie zum Beispiel Sauerstoff, Magnesium, Silizium und Kalzium. Das Verhältnis der Alpha-Elemente zu Eisen fungiert als natürliche Uhr, die einen Hinweis darauf gibt, wann ein Stern geboren wurde.

Bis vor kurzem dachte man, dass man an den Sternen in unserer Umgebung die lokale Geschichte der Sternentstehung und die Anreicherung des Gases mit Metallen einfach wie in einem Buch ablesen könnte. Diese Information allein reicht allerdings nicht aus, um die Geschichte der Milchstraße vollständig zu charakterisieren: Forscher am MPA und an der Universität Oxford zeigten, dass umfassende Migrationsbewegungen zwischen Sternen in der Scheibe der Milchstraße stattfinden. Die Sterne kreisen also nicht mit annähernd konstantem Radius um das Zentrum der Milchstraße, sondern können mit der Zeit nach innen oder nach außen wandern. Da sich die Zusammensetzung des Gases, aus dem neue Sterne entstehen, ändert - in den dichten Bereichen der inneren Scheibe entwickelt es sich schneller und ist metallreicher als in den Randbereichen — hängt der Metallgehalt eines Sternes damit nicht nur von der Entstehungszeit ab sondern auch von dem Ort, an dem er geboren wurde.

Berücksichtigt man die Migration von Sternen, so ändert dies in hohem Maße die Interpretation der Geschichte unserer Galaxie. Die xenophobe Betrachtungsweise ohne Migration impliziert katastrophale Ereignisse in der Vergangenheit unserer Milchstraße, wie zum Beispiel den Einschlag einer kleineren Galaxie oder im besten Falle eine Periode, in dem die Sternentstehung fast völlig zum Erliegen kam. Demgegenüber können die neuen Modelle mit Migration die Beobachtungen mit einer recht ruhigen und einfachen Historie erklären. Die beiden unterschiedlichen Szenarien erfordern auch sehr unterschiedliche Beziehungen zwischen dem Alter der Sterne und ihrem Metallgehalt: Im klassischen Modell muss sich der lokale Metallgehalt sehr stark mit der Zeit ändern, um die breite Verteilung der Metallizitäten von Sternen in unserer Umgebung zu erklären. Das Migrationsmodell hingegen erreicht die nötige Diversität durch Einwanderung und bleibt damit selbst dann gültig, wenn sich der durchschnittliche Metallgehalt mit dem Alter nicht signifikant ändert. Die Metallizitätsunterschiede wachsen in diesem Modell allerdings mit zunehmendem Alter der Sterne an.

Um das Ausmaß der Wanderbewegungen zu messen, unternahm die Gruppe am MPA eine Revision der Sternparameter der Geneva-Copenhagen-Studie, des umfassendsten Katalogs der solaren Umgebung mit ca. 16.000 Objekten. Der Metallgehalt von Sternen wird üblicherweise durch einen detaillierten Vergleich des gemessenen Lichtspektrums mit Modellrechnungen bestimmt. Diese Herangehensweise ist jedoch sehr zeitaufwändig und für Datensätze mit mehreren Tausend Objekten nicht praktikabel. Information über die Metallhäufigkeiten kann aber auch aus den Farben der Sterne gewonnen werden: Die Anwesenheit selbst kleiner Mengen an Metallen in der Sternatmosphäre verändert die Farbe eines Sterns, so wie bei Rotwein bereits weniger als 1 Gramm Farbstoff ausreicht, um eine Flasche Wein rot zu färben. Die Forscher am MPA nutzten ein verbessertes Schema, um die physikalischen Eigenschaften eines Sterns aus seinen Farben abzuleiten, und zeigten so, dass der durchschnittliche Metallgehalt von Sternen in der Nachbarschaft der Sonne höher ist als ursprünglich angenommen. Damit wird die Sonne in dieser Hinsicht ein sehr durchschnittliches Objekt.

Die Forscher konnten auch den Zusammenhang zwischen Alter und Metallgehalt der Sterne erneut und genauer bestimmen. Wie aus Abb. 1 ersichtlich, verschiebt sich das Maximum der Metallizitätsverteilung kaum mit dem Alter der Objekte, die Breite der Verteilung nimmt aber stark zu. Dieses Verhalten widerspricht der klassischen Sichtweise; im Modell der radialen Migration von Sternen ist es dagegen ganz natürlich erklärbar.

In der neuen Theorie der Migration vereinfacht sich somit unser Bild von der Geschichte der Milchstraße. Um das neue Modell weiter von der klassischen Betrachtungsweise abgrenzen zu können und um den Mischungsprozess in der Scheibe besser zu verstehen, sind zusätzliche Informationen nötig. Wie oben erwähnt, besteht ein Zusammenhang zwischen dem Gehalt an Alpha-Elementen und dem Alter von Sternen. Bei ausreichend großen Sternzahlen kann ein Teil der Information über den Ursprung einer bestimmten Population rekonstruiert werden, selbst wenn die einzelnen Sterne inzwischen in der Scheibe unserer Galaxie verstreut sind.

Das am MPA und an der Universität Oxford entwickelte Modell ist das erste analytische Modell, das die chemische Information mit den Bewegungen der Sterne in Beziehung setzen kann. Damit können - im Gegensatz zur klassischen Modellierung - die bereits beobachteten Zusammenhänge einfach und konsistent erklärt und weitere Vorhersagen getroffen werden. Zum Beispiel zeigt Abb. 2 die erwartete, durchschnittliche Rotationsgeschwindigkeit in der Umgebung der Sonne. Alte Sterne liegen mit ihrem hohen Gehalt an Alpha-Elementen oben in der Abbildung, junge Sterne unten. Diese Tendenz wird durch die Geschwindigkeitsinformation überlagert: Sterne aus der inneren Scheibe rotieren langsamer (blau) und sind gleichzeitig metallreicher (rechts) als die Sterne aus den Randbereichen der Scheibe. Diese Vorhersage aus dem Modell wurde in der Tat durch Beobachtungsdaten für junge Sterne bestätigt (für ältere Sterne ist die Vorhersage schwieriger). Die internationale, vom MPA angeführte Forschergruppe konnte so einen systematischen Fehler in der Geschwindigkeitsbestimmung aufspüren und damit die Bewegung des Sonnensystems durch die Galaxie neu bestimmen.

Außerdem gelang es den Forschern am MPA erstmalig, den relativen Gehalt an Alpha-Elementen aus der Farbinformation zu gewinnen. Somit konnten sie die subtilen Beziehungen zwischen der detaillierten chemischen Information und den Bewegungen der Sterne in der Galaxie mit einem Datensatz bislang unerreichter Größe untersuchen.

Besonders spannend ist, dass das neue Migrationsmodell auch eine natürliche Erklärung für die Herkunft der sogenannten dicken Scheibe bietet (eine Scheibenpopulation, deren Orbits im Schnitt weiter aus der Scheibenebene herausragen als üblich). Statt eine kosmische Kollision zwischen der Milchstraße und einer anderen Galaxie zu benötigen, kann ihre Existenz einfach durch die Immigration von relativ alten Sternen aus dem Innenbereich der galaktischen Scheibe erklärt werden. Die Sterne mit langsamer Rotation gehören größtenteils zu dieser dicken Scheibe, was mit ihrem Ursprung in der inneren Scheibe verbunden ist, während Sterne mit hoher Rotationsgeschwindigkeit vor allem aus der äußeren, metallärmeren Scheibe stammen (Abb. 3). Trotz ihres höheren Alters ist diese langsam rotierende Population metallreicher als die schnellrotierenden Sterne (Abb. 4), was ein weiteres Problem in der klassischen Sichtweise und die Notwendigkeit stellarer Migration aufzeigt.


Das SAGA-Team


Weiterführende Literatur:

Schönrich, R. & Binney, J., "Origin and Structure of the Galactic disc(s)", 2009, MNRAS, 396, 203

Schönrich, R. & Binney, J., "Chemical evolution with radial mixing", 2009, MNRAS, 399, 1145

Schönrich, R., "Unruhe im Ruhestandard", linkPfeilExtern.gifSterne und Weltraum, August 2010

Casagrande, L., Schönrich, R., Asplund, M., Ramírez, I., et al. 2010, A&A, submitted